28. Oktober 2025
Wie gerecht ist unsere Demokratie – und für wen?
Diese Frage stand im Mittelpunkt des digitalen Fachtags "Demokratie und Gerechtigkeit: Ein Versprechen auf dem Prüfstand!" vom 18.09.2025 zu dem pädagogische Fachkräfte aus der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie weitere Interessierte eingeladen waren.
Entsolidarisierung, soziale Ungleichheit und die Gefährdung der Demokratie
canva
In seinem eindrucksvollen Beitrag zeigte Prof. Dr. Christoph Butterwegge, dass soziale Ungleichheit nicht nur eine Frage von Einkommen und Vermögen ist, sondern das Fundament der Demokratie selbst bedrohen kann.
Mit der Einführung von Hartz IV habe eine tiefgreifende Entsolidarisierung begonnen: Soziale Probleme würden zunehmend individualisiert, während strukturelle Ursachen aus dem Blick geraten seien. Armut werde stigmatisiert – Reichtum hingegen verklärt.
Butterwegge betonte, dass Armut und Reichtum zwei Seiten derselben Medaille sind. In Deutschland besäßen wenige Tausend Menschen ein Vermögen in dreistelliger Millionenhöhe, während jedes vierte Kind von Armut betroffen sei. Diese wachsende Kluft führe zu politischer Ungleichheit: Wer arm ist, nehme seltener an Wahlen teil und fühle sich kaum repräsentiert – ein Nährboden für Politikverdrossenheit und rechtspopulistische Tendenzen.
Um die Demokratie zu stärken, forderte Butterwegge eine Reregulierung des Arbeitsmarkts, den Ausbau des Sozialstaats und eine gerechtere Steuerpolitik mit Vermögens- und Erbschaftssteuern. Nur durch Umverteilung und Solidarität könne die Gesellschaft zusammengehalten werden. Die Verteilung sollte sich am Bedarf orientieren - d.h. Bedarfsgerechtigkeit sollte gesellschaftlich und politisch im Vordergrund stehen.
Sein Fazit: „Eine solidarische Demokratie braucht soziale Gerechtigkeit – sonst verliert sie ihre eigene Grundlage.“
Potentiale der Jugendarbeit
canva
Wie viel partizipative Demokratie kann Ihre Organisation?
Prof. Wibke Riekmann meint, dass Vereine ihr Potenzial zur Demokratie nicht realisieren und zu Dienstleistungsorientierung oder Familiarisierung tendieren. Ehrenamtliche haben einen unklaren Begriff von Demokratie und Jugendverbände ergreifen nicht konsequent den Bildungsauftrag zur Demokratie.
Die Orte der Demokratiebildung sind alle Sozialisationsinstanzen und Bildungsinstitutionen. Wenn wir mit dem Verständnis „Demokratie als Lebensform“ (John Dewey) agieren, haben wir in allen Bereichen viele Möglichkeiten junge Menschen partizipativ einzubeziehen, so dass eine partizipative Demokratie erlebbar ist. Das gelingt dann sinnvoll, wenn die Menschen an allen Entscheidungen beteiligt werden, von denen sie sich im Alltag betroffen fühlen.
Politische Themen sollten gegenüber den Kindern und Jugendlichen sichtbarer gemacht werden und für die gemeinsame Auseinandersetzung aufgegriffen werden. Dafür müssen Lernräume vorhanden sein, die von gegenseitigem Respekt geprägt sind und in denen die Themen der jungen Menschen ernst genommen werden, auch wenn sie z. B. fernab der Themen der Fachkräfte sind oder zu sein scheinen.
- Mehr Demokratie im Jugendverband ist möglich, wenn hauptamtliche Mitarbeiter*innen qualifiziert, Strukturen in den Jugendverbänden weiterentwickelt und Kinder und Jugendliche stärker in die kommunale Öffentlichkeit eingebunden werden (Ahlrichs 2019).
- Jugendgruppen müssen sich als Interessenvertretung und Jugendverband verstehen!
- Kritische Positionierung nach innen: Partizipation als Demokratie umsetzen und verwirklichen, Vereinsprinzipien ernst nehmen und in „Erinnerung“ rufen.
- Klare Positionierung und Profilierung nach außen: Jugendarbeit als einziger Ort der Demokratiebildung, der Demokratie lernen und leben wirklich umsetzen kann!
Diskussion: Berufliche Praxis, Handlungsoptionen und Aufgaben an die pädagogischen Fachkräfte
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In der abschließenden Diskussionsrunde tauschten sich Olaf Hagen (Sozial-Diakonische Arbeit - Evangelische Jugend gGmbH Schwerin, Geschäftsführung), Janin Volkstädt (CJD Nord, Jugendmigrationsdienst Waren, Leitung), Phillip Diestel (Diakonie Schleswig-Holstein, Kinder- und Jugendhilfe, Rendsburg) und Prof. Wibke Riekmann (Hochschule Hannover) über Herausforderungen und Chancen demokratischer Bildung in sozial ungleichen Lebenswelten aus.
Die Praxisberichte zeigten deutlich: Armut, Ausgrenzung und fehlende Teilhabe prägen vielerorts den Alltag junger Menschen – insbesondere in strukturschwachen oder ländlichen Regionen. Fehlende Angebote, bürokratische Hürden und Kürzungen in der Jugendarbeit verschärfen die Situation.
Die Teilnehmenden betonten, dass soziale Arbeit politischer werden muss: Sie ist Brückenbauerin zwischen Lebensrealitäten und Demokratie, darf aber nicht selbst Teil ausschließender Strukturen sein. Klassismus, prekäre Finanzierung und ungleiche Zugänge müssten offen benannt und verändert werden.
Trotz knapper Mittel liege die Stärke der Fachkräfte in Haltung, Vernetzung und Glaubwürdigkeit – Demokratie beginne im Kleinen, in Beziehungen und im Alltag. Soziale Gerechtigkeit ist Voraussetzung für Demokratiebildung. Gefordert sind politische Verantwortung, stabile Strukturen und eine Haltung, die konsequent für Teilhabe und Solidarität eintritt.