Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt
Eine Betrachtung von Petra Müller zum Adventslied von Jochen Klepper "Die Nacht ist vorgedrungen"
„Die ernsten, ernsten Adventslieder: die sind mein Trost“, schreibt Jochen Klepper am Nachmittag des dritten Advent 1937 in sein Tagesbuch (Jochen Klepper, Unter dem Schatten deiner Flügel, München 1996, S. 528). Wenige Tage später, am 18. Dezember, fügt er ihnen mit dem Lied „Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern“ ein eigenes hinzu. Es ist sein zweites Weihnachtslied; am Tag zuvor brachte er sein erstes zu Papier (a.a.O, S. 531).
1. Die Nacht ist vorgedrungen,
der Tag ist nicht mehr fern.
So sei nun Lob gesungen
dem hellen Morgenstern!
Auch wer zur Nacht geweinet,
der stimme froh mit ein.
Der Morgenstern bescheinet
auch deine Angst und Pein.
Für Jochen Klepper ist „Die Nacht ist vorgedrungen…“ von Beginn an ein Weihnachtslied. Wieso Lied und nicht Gedicht – denn erst zwei Jahre später bekommt der Text die Melodie, komponiert von Johannes Petzold, die uns aus dem Evangelischen Gesangbuch vertraut ist (EG 16)? Wenn es in der ersten Strophe „Der Morgenstern bescheinet auch dein Angst und Pein“ heißt, so hat Klepper nicht nur sehr bewusst die Formulierung „Angst und Pein“ gewählt, mit der das Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“ (EG 85) anklingt, sondern er hat auch dessen Versmaß übernommen, so dass sein Gedicht auf diese Melodie passt, ebenso aber auch auf die Melodie des Liedes „Wie soll ich dich empfangen“ (EG11). Ein wenig erstaunt es, dass, obwohl Klepper „Die Nacht ist vorgedrungen…“ als Weihnachtslied beschreibt, es im Evangelischen Gesangbuch (EG 16) und im katholischen Gotteslob (GL 220) in die Rubrik „Advent“ eingeordnet wurde, obgleich die dritte Strophe davon singt, dass wir uns zum Stalle aufmachen sollen, wo wir das Heil finden. Vielleicht mögen Sie bei einer Andacht oder in einem Gottesdienst den Text mit diesen drei verschiedenen Melodien ansingen und darüber ins Gespräch kommen, wie der Text sich jeweils damit verbindet.
„Die Nacht ist vorgedrungen…“ – ja, es ist ein ernstes Lied, vielleicht ist es auch traurig, doch ebenso ist es auch gespickt mit einem Schimmern von Hoffnung, zuversichtlicher Erwartung trotz und in aller Dunkelheit und einer tiefen Glaubensgewissheit.
Lieder, besonders die, die uns lange vertraut sind, wecken in uns Erinnerungen. Ist das auch bei Ihnen so? Weckt dieses Lied Erinnerungen in Ihnen wach? Ich kann machen, was ich will – immer, wenn ich in dieses Lied einstimme, fühle ich mich zurückversetzt zu einem Einkehrwochenende im Haus der Stille der Jesus Bruderschaft in Gnadenthal im Advent Mitte der 80er Jahre. Noch ganz wach ist in mir das Bild, wie die winterlichen Strahlen der Morgensonne in den Seminarraum fielen, ich spüre, wie tief die stillen Stunden des Bedenken dieses Liedes gingen und wie ruhig und erfüllt ich im Laufe dieses Tages wurde. Obwohl ich überhaupt keine Erinnerung an konkrete Gedanken oder theologische Erkenntnisse von damals habe, so sind mir aber diese Eindrücke und die Erinnerung an Gefühle von Dichte, Tiefe, Berührtsein, von Trost und einer Hoffnung, die nicht aufgibt, noch immer gegenwärtig – vielleicht ist es deshalb so, weil gerade das dieses Lied ausmacht und ihm zugrunde liegt: Tiefe, Dichte, geglaubter und erhoffter Trost.
Der Text ist zutiefst auf dem Lebenshintergrund von Jochen Klepper entstanden und mit seiner Lebenserfahrung und Glaubensdeutung gegründet. „Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern…“ – Jochen Klepper, der Erschütterte, findet Sprache und Ausdruck in all seiner Angst und Pein, er singt dem Trost und der Hoffnung aus dem Glauben entgehen: er, seine Familie und ebenso alle, die seitdem in dieses Lied eintauchen. Auch wenn der Morgenstern die Bühne betritt, es wird nie hell in diesem Lied, Nacht und Dunkel ziehen sich bis zum Ende durch. Doch der Morgenstern erscheint gewöhnlich in der Mitte der Nacht, er kündet den neuen Tag an, er wird zum Zeichen der Hoffnung. Jochen Klepper knüpft mit dem Morgenstern auch an die altkirchlichen Tage der O-Antiphonen an, die ihren Sitz in der Liturgie in der Zeit vom 17.-21. Dezember haben. Die fünfte O-Antiphone ist die des Morgensterns (21. Dezember): „O Morgenstern, Glanz des unversehrten Lichtes, der Gerechtigkeit strahlende Sonne: Komm und erleuchte, die da sitzen in Finsternis und im Schatten des Todes.“ Der Morgenstern klingt auch an im „aufstrahlendem Licht aus der Höhe“ des Benedictus (Lukas 1,78).
Nacht – Tränen – Angst und Pein – Menschenleid – Schuld, das waren Realitäten im Leben von Jochen Klepper, besonders in der Zeit des Nationalsozialismus, aber auch schon in früher Jugend. Schon als Kind war er chronisch krank und dem Tode nahe. Da der lange Schulweg aus gesundheitlichen Gründen zu anstrengend für ihn war, war er die Woche über bei seinem Französischlehrer untergebracht. Lange Jahre werden er, sowie seine Mitschüler, von diesem Lehrer sexuell missbraucht. Bis zum Schulabschluss werden sich von den 12 Mitschülern seines Jahrgangs fünf das Leben nehmen. Ihm fehlte, wie den meisten in einer vergleichbaren Situation, die Kraft, Widerstand zu leisten und sich zu wehren. Vielleicht hat er schon damals, so begabt und reflektiert er war, das Dunkel gedeutet. Er studiert Theologie, bricht aber das Studium ab und wird Schriftsteller, Lektor und freier Journalist. Als er ein kleines Zimmer suchte, begegnete er der Liebe seines Lebens: Johanna Stein. Zwei Jahre später heiratete er sie. Sie war um einiges älter und brachte zwei Töchter mit in die Ehe. 1932 ziehen sie nach Berlin, Klepper bekommt eine Anstellung beim Rundfunk im Funkhaus Berlin. Das Glück währt nur kurz – wie schon damals, als schönen Tage der Kindheit schnell ein Ende fanden. Wegen der jüdischen Herkunft seiner Frau gerät die Familie schnell unter Druck. Der älteren Stieftochter gelingt noch vor Kriegsbeginn die Ausreise nach England, der jüngeren wird die Ausreise nach Schweden wiederholt versagt. Als seiner Frau und ihrer jüngsten Tochter die Deportation ins Konzentrationslager drohte, entschied sich die Familie, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden.
4. Noch manche Nacht wird fallen
auf Menschenleid und -schuld.
Doch wandert nun mit allen
der Stern der Gotteshuld.
Beglänzt von seinem Lichte,
euch kein Dunkel mehr,
von Gottes Angesichte
kam euch die Rettung her.
5. Gott will im Dunkel wohnen
und hat es doch erhellt.
Als wollte er belohnen,
so richtet er die Welt.
Der sich den Erdkreis baute,
der lässt den Sünder nicht.
Wer hier dem Sohn vertraute,
kommt dort aus dem Gericht.
Jochen Klepper konnte nicht ertragen, seine Geliebten der Gewalt des Todes durch das Regime auszusetzen. Es war keine Kurzschlusshandlung, vielmehr hatten sie lange Zeit, sich mit diesem drohenden Szenario auseinanderzusetzen, sich „hineinzubeten“ und vor Gott nach dem Ausweg zu suchen, den sie in ihrer Nacht und in ihrem Leid gehen konnten. Sie hatten „zur Nacht geweinet“, aber ihnen war auch die Glaubensgewissheit zugewachsen, dass „Gott im Dunkel wohnt“, dass der „Stern der Gotteshuld“ mit ihnen geht, dass er sie hindurchführt und dass ihnen „von Gottes Angesicht die Rettung kommen wird“. Der Widerstand von Jochen Klepper, seiner Frau und seiner Stieftochter war ein innerer Widerstand gegen den Aufstand des Bösen.
Petra Müller ist Diplompädagogin für Erwachsenenbildung und Theologie.
Sie arbeitet als Referentin in der Fachstelle Ältere der Nordkirche im Hauptbereich Generationen und Geschlechter.